Mittwoch, 19. August 2015

"Der große Fluss der Barmherzigkeit" – oder über das schöpfungstheologische Wasserzeichen der Familiensynode und den Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte

Die Gebetsanliegen von Papst Franziskus im Dezember 2015
zum Beginn des Jubeljahres der Barmherzigkeit I Bild © KNA
Dass nicht nur die Lehre um Ehe und Familie (wie am 19.4. und 18.6.15 beschrieben), sondern auch Erlösungsvorstellungen entsprechend der Geschichte des christlichen Erlösungsglaubens in den Kontexten der jeweiligen Zeit einem Wandel unterliegen können, würde wahrscheinlich nicht nur manchem jungen Theologen auch noch heute als eine gewagte These erscheinen, anderen ängstlicheren gar als häretisch oder als eine dem Relativismus und dem vielzitierten Mainstream sich andienende Provokation gelten. Aber eine – auch nur ungefähre – Kenntnis von einem ‚Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte‘ gehörte eigentlich zum theologischen Basiswissen; und fehlt doch nach meinen universitären Erfahrungen nicht nur bei den allermeisten Studienabsolventen der Theologie. Durch einen niedrigen theologischen Grundwasserspiegel kann die – psychologisch insofern noch einmal verständlichere – Haltung, die jeweils geltende kirchliche Lehre samt ihren immer auch zeitbedingten Verstehensmodellen für 'unveränderlich' zu halten bzw. als 'zeitlos' und 'ewig' anzusehen, im Grundsatz ebenso wenig verwundern, wie die aus derselben Unkenntnis gespeiste journalistische Aufschneiderei, die Papst Franziskus in populistischer Weise noch vor wenigen Wochen (nicht zufällig wohl am Tag der Seligsprechung des Befreiungstheologen Oscar Romeros) vollmundig „Simplifizität“ unterstellte, insofern ‚ihn Theologie einfach nicht interessiere‘.  (Spiegel vom 23.5.2015) Unverhohlen wird auch von privaten, aber sich höchst offiziös gebenden ‚katholischen Internetmagazinen‘ kolportiert, dass bei der letztjährigen außerordentlichen Synode in Anwesenheit des Papstes „Verwirrung“ und „Unruhe“ hinsichtlich der ‚unveränderlichen Lehre‘ entstanden sei und Papst Franziskus gar als ihr eigentlicher „Architekt und Lenker dieser Richtung“ identifiziert.

Das Wasserzeichen der Schöpfungsspiritualität

Tatsächlich spannt Papst Franziskus aber einen weit größeren theologischen Bogen als viele seiner Kritiker ahnen (können), insofern dieser im Anschluss an eine breite theologische Strömung der östlichen und patristischen Tradition ein lange außer Acht gelassenes kosmologisches Denken der Christentumsgeschichte in neuer Weise wieder einbezieht, wie es gerade in der weltweit vielgelobten Schöpfungsenzyklika Laudato Si‘ wahrzunehmen ist. Bislang wurde – und das ist vielleicht auch Kennzeichen der insofern bedauerlichen Auffächerung des theologischen Fächerkanons in vier Bereiche mit insgesamt etwa 12 Einzeldisziplinen – die Schöpfungsenzyklika vor allem aus Sicht einer Einzelwissenschaft der systematischen Fächergruppe, aus der Perspektive der Christlichen Sozialethik begutachtet. Anerkannt wurde im Zuge der Veröffentlichung dieses jüngsten päpstlichen Lehrschreibens gegen den Widerstand fundamentalistischer Kreise, deren beispielhafte Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere das päpstliche Eingeständnis des durch Menschen verursachten Klimawandels sowie das eindringliche Plädoyer für eine ‚ökologische Umkehr‘ und ‚nachhaltige Entwicklung‘,und schließlich die Aussagen der Enzyklika in Bezug zu der bisherigen Lehrtradition sozialethischer Stellungnahmen eingeordnet. Zu diesem Zusammenhang ist auch am Tag der Veröffentlichung der Enzyklika in diesem Blog am 18.6. bereits vieles ins Wort gekommen. Über die Sozialethik hinaus reichen die Grundaussagen der Enzyklika Laudato Si aber beträchtlich tiefer und könnten (und müssten) eigentlich alle theologischen Disziplinen zu einem Relaunch ihrer Grundaussagen herausfordern. Die gesamte Schöpfung – so lautet die bislang in dieser Weise vom Stuhle Petri nie gehörte theologische Ansage aus Rom – ist in der „Ordnung der Liebe angesiedelt.
 
"Die Liebe Gottes ist der fundamentale Beweggrund der gesamten Schöpfung: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen“ (Weish 11,24). Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen. Der heilige Basilius der Große sagte, dass der Schöpfer auch „die unerschöpfliche Güte“ ist, und Dante Alighieri sprach von der „Liebe, welche die Sonne und die Sterne bewegt“. Daher steigt man von den geschaffenen Werken Gottes auf „zu seiner liebevollen Barmherzigkeit“. (LS 77)
 
Indem Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato Si‘ sogar Menschwerdung, Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi in seinen schöpfungstheologischen Entwurf einbegreift und immer wieder im genauen Wortlaut betont, "dass alles miteinander verbunden ist" (vgl. LS 16, 91, 117, 138), wird deutlich, wie die Schöpfungstheologie und -spiritualität ein durchgehendes Wasserzeichen des Pontifikats von Papst Franziskus und seines theologischen Denkens ist. Und diese sowohl an der gedanklichen Ausrichtung des II. Vatikanischen Konzils wie vor allem der Pastoralkonstitution ‚Gaudium et spes‘, an die Tradition keltischer Theologie und darüber an die griechische Patristik und ihr kosmologisches Denken anknüpfende schöpfungstheologische Perspektive hat es theologiegeschichtlich in sich! 


Der Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte

Mit den zu Beginn bereits zitierten Worten des emeritierten Dogmatikers Gisbert Greshake über den „Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte“ möchte ich die Aufmerksamkeit lenken auf eine von ihm schon im Jahr 1973 für möglich gehaltene und m.E. mit dem Pontifikat Papst Franziskus angesichts der ökologischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen gut 40 Jahre später tatsächlich eingeleitete Ergänzung des lehramtlich noch bis in die jüngsten Tage allein vorherrschenden lateinisch-westlichen Typs der Erlösungsvorstellung durch eine am Schöpfungsgedanken ausgerichteten Soteriologie im Sinne der griechisch-östlichen Tradition. Bestand die überkommene lehramtliche Denk- und Sprechweise im Grunde aus Variationen einer Soteriologie des lateinisch-westlichen Typs mit ihrem Fokus auf der rechtlichen Bereinigung des Gott-Mensch-Verhältnisses und ihrer Frage, wie denn der Einzelne frei von Sünde und Schuld werde (die Frage, die schon im Mittelalter auch den Reformator Martin Luther umtrieb), orientiert sich das kosmologische Erlösungsverständnis griechisch-östlicher Provenienz an dem in Schöpfung und Bibel gleichermaßen zu erkennenden Wirken Gottes, der Wahrnehmung und Wertschätzung alles Geschaffenen und dessen Einbeziehung in einen pädagogischen Prozess der Vervollkommnung. War schon das II. Vatikanische Konzil bei der behutsamen Neujustierung seiner Aussagen in Bezug auf die Erlösungslehre nicht nur in seiner Pastoralkonstitution darum bemüht, einen Dualismus von Natur und Gnade zu vermeiden und theologisch auszugleichen, findet sich diese Perspektive des Zueinanders von Erlösungs- und Schöpfungsordnung im Pontifikat von Papst Franziskus – nicht ungefähr parallel zur weitestgehenden Rehabilitierung der Befreiungstheologie – in beinahe allen lehramtlichen Aussagen – und vor allem in der Schöpfungsenzyklika Laudato Si‘ und einer darin ins Wort gebrachten Schöpfungsspiritualität. Erinnernd an die patristischen Väter Irenäus und Basilius, an Hildegard von Bingen oder Johannes Scotus Eriugena, den großen Schöpfungstheologen Thomas von Aquin, aber auch an den mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart zitiert Papst Franziskus insbesondere seinen Namenspatron, den heiligen Franziskus, der uns „in Treue zur Heiligen Schrift nahe [bringt] die Natur als ein prächtiges Buch zu erkennen, in dem Gott zu uns spricht und einen Abglanz seiner Schönheit und Güte aufscheinen lässt.“ (LS 12) "Das ganze materielle Universum ist ein Ausdruck der Liebe Gottes, seiner grenzenlosen Zärtlichkeit uns gegenüber. Der Erdboden, das Wasser, die Berge – alles ist eine Liebkosung Gottes." (LS 84)  Diese Grundgedanken und die 'Sorge für  das gemeinsame Haus' haben Papst Franziskus bewogen, den 1. September auch in der katholischen Kirche zum 'Tag der Schöpfung' auszurufen, wie er in der orthodoxen Kirche schon lange gefeiert wird:
Gott hat ein kostbares Buch geschrieben, dessen „Buchstaben von der Vielzahl der im Universum vertretenen Geschöpfe gebildet werden“. (…) Gut haben die Bischöfe von Kanada zum Ausdruck gebracht, dass kein Geschöpf von diesem Sich-Kund-tun Gottes ausgeschlossen ist: „Von den weitesten Panoramablicken bis zur winzigsten Lebensform ist die Natur eine ständige Quelle für Verwunderung und Ehrfurcht. Sie ist auch eine fortwährende Offenbarung des Göttlichen.“ (...) Wahrzunehmen, wie jedes Geschöpf den Hymnus seiner Existenz singt, bedeutet, freudig in der Liebe Gottes und in der Hoffnung zu leben.“ Diese Betrachtung der Schöpfung erlaubt uns, durch jedes Ding irgendeine Lehre zu entdecken, die Gott uns übermitteln möchte, denn „die Schöpfung zu betrachten bedeutet für den Gläubigen auch, eine Botschaft zu hören, eine paradoxe und lautlose Stimme wahrzunehmen“. (…) So können wir sagen: „Neben der eigentlichen, in der Heiligen Schrift enthaltenen Offenbarung tut sich Gott auch im Strahlen der Sonne und im Anbruch der Nacht kund.“ (LS 85) 

Die Bedeutung der Schöpfungstheologie für die Familiensynode
 
Welche Bedeutung das schöpfungstheologische Denken für die im Oktober beginnende Familiensynode hat, lässt sich – gleich einem in allen lehramtlichen Verlautbarungen Papst Franziskus‘ durchscheinenden Wasserzeichen – auch dem jüngsten Dokument der Vorbereitung, dem Instrumentum laboris ablesen. Was in der Enzyklika Laudato Si‘ für die gesamte Schöpfung ausgesagt ist, gilt selbstverständlich auch für den Menschen: "Es gilt, von der Überzeugung auszugehen, dass der Mensch von Gott kommt und dass daher ein Nachdenken, das die großen Fragen über die Bedeutung des Menschseins neu stellt, angesichts der tiefen Erwartungen der Menschheit auf fruchtbaren Boden fallen kann." (Instrumentum laboris 35 bzw. Relatio Synodi 11) Aufgrund dieser positiven Anthropologie, die mit einer grundsätzlichen Aufgeschlossenheit des Menschen für die christliche Botschaft rechnet, heißt es im direkten Anschluss, dass „[d]ie großen Werte der christlichen Ehe und Familie jener Suche [entsprechen], welche die menschliche Existenz durchzieht, auch in einer von Individualismus und Hedonismus geprägten Zeit." (Ebd.) Und gemäß dem bereits die Schöpfungstheologie von Papst Franziskus prägenden Verständnis, dass die Schöpfungsordnung von der Orientierung auf Christus hin bestimmt ist (Instrumentum laboris 39 bzw. Relatio Synodi 13), dass die Erlösungsordnung die Schöpfungsordnung erleuchtet und vollendet, heißt es im Sinne der im vorangegangenen Blog-Beitrag am 19.7.15 ausgeführten ‚göttlichen Pädagogik“:  
Man muss die Menschen in ihrer konkreten Existenz annehmen, es verstehen, ihnen bei ihrer Suche beizustehen, sie in ihrer Sehnsucht nach Gott und in ihrem Wunsch, sich ganz als Teil der Kirche zu fühlen, ermutigen, auch jene, die eine Erfahrung des Scheiterns gemacht haben oder sich in verzweifelten Situationen befinden. Die christliche Botschaft enthält immer die Wirklichkeit und Dynamik der Barmherzigkeit und der Wahrheit, die in Christus zur Einheit geführt werden. (Instrumentum laboris 35 bzw. Relatio  Synodi 11)
An dieser Stelle übersetzt sich der angesprochene positive Blick auf den je Einzelnen in eine Wertschätzung einer Gradualität von Lebensentwürfen und eine Dynamik im Sinne eines pädagogischen Prozesses auf eine Vervollkommnung – wie bereits ebenfalls am 19.7.15 ausgeführt.

... und die Einladung 'zur Revolution der zärtlichen Liebe' 

Um dieses Programm nicht nur auf der kommenden Synode in einem möglichst großen Konsens und bezogen auf einige virulente Einzelfragen – ihnen wird neben dem Rückblick auf den zurückliegenden zweijährigen synodalen Prozess mein letzter Blog-Beitrag vor Synodenbeginn am 1.9.15 gewidmet sein – möglichst einvernehmlich weiterzuführen, sondern auch in Kirche und Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es kirchlicher Mitarbeitender auf allen Hierarchiestufen, bedarf es Christen, die selbst eine Erfahrung mit der barmherzigen Schöpfungsliebe gemacht haben, ja die selbst  im großen „Fluss der Barmherzigkeit“ (Vgl. Instrumentum laboris 106) stehen: Es geht letztlich darum, ob wir selbst diese schöpfungstheologisch fundierte Erfahrung glauben und teilen können, dass „[a]us dem Herzen der Dreifaltigkeit, aus dem tiefsten Inneren des göttlichen Geheimnisses [...] ununterbrochen der große Strom der Barmherzigkeit [entspringt und quillt]. Diese Quelle kann niemals versiegen, seien es auch noch so viele, die zu ihr kommen. Wann immer jemand das Bedürfnis verspürt, kann er sich ihr nähern, denn die Barmherzigkeit Gottes ist ohne Ende. So groß und so unergründlich ist die Tiefe des Geheimnisses, das sie umfängt, so groß und so unergründlich der Reichtum, der aus ihr hervorquillt.“ (Ebd. und MV 25)

Erst wenn wir diese Weise der barmherzigen sich immerzu verströmenden, schöpferischen Liebe Gottes verstanden und erfahren haben, können wir auch den Vollsinn des Wortes Barmherzigkeit verstehen, der von caritativer Mildtätigkeit etwa so weit entfernt ist wie ein freundlicher Händedruck von sexueller Ekstase, weder ein ‚von oben nach unten‘ meint noch ein Schlupfloch juridisch denkender Schlitzohrigkeit.  Papst Franziskus fordert mit der Ankündigung eines Jubeljahres der Barmherzigkeit - wie in diesem Blog am 19.5.2015 bereits angedeutet - alle Christen dazu auf, die Einladung "zur Revolution der zärtlichen Liebe" (EG 88) mit zu vollziehen:
Nicht zu urteilen und nicht zu verurteilen bedeutet daher im Positiven, das Gute in einer jeden Person wahrzunehmen und nicht zuzulassen, dass diese wegen unseres begrenzten Urteils und unserer Anmaßung, vermeintlich alles genau zu wissen, leiden muss. Aber das reicht noch nicht, um Barmherzigkeit zum Ausdruck zu bringen. Jesus bittet uns zu vergeben und uns selbst hinzugeben, Werkzeuge der Vergebung zu sein, weil wir zuerst Gottes Vergebung erfahren haben, großzügig zu sein allen gegenüber im Wissen darum, dass auch Gott sein Wohlwollen uns gegenüber großzügig handhabt. 
Barmherzig wie der Vater ist also das Leitwort des Heiligen Jahres. (MV 14)

Lesen Sie hier den Blog-Beitrag vom 1. September 2015 über die Revolution der zärtlichen Liebe.