Montag, 8. Februar 2016

Ecclesia semper reformanda – oder über das doppelte Paradox der Familiensynode und seine Bedeutung für die Erneuerung der Kirche




Vom 4. bis 25. Oktober 2015 trat die XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode unter dem Thema "Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute" zusammen. Sie führte die nach einem über zweijährigen synodalen Prozess – mit den Zwischenstationen zweier Umfragen und der vorausgegangenen Außerordentlichen Bischofssynode des Jahres 2014 – den theologischen Neuansatz der Wertschätzung familialer Lebensformen in einer Vervollkommnungsperspektive göttlicher Pädagogik weiter. Sie machte andererseits aber auch die Grundsatzfrage und Herausforderung in diesem Zentralbereich menschlicher Lebenswirklichkeit deutlich, wie man "angesichts der Vielfalt von Kulturen bei einem Thema wie Ehe, Familie und Sexualität eine gemeinsame Sprache finden" könne (Kardinal Marx am 19.10.2014). Papst Franziskus brachte es in einem vielzitierten Absatz in seiner Abschlussansprache am 24. Oktober 2015 in folgender Weise auf den Punkt:
"Und – obwohl die dogmatischen Fragen durch das Lehramt der Kirche klar definiert schienen – sahen wir, dass das, was dem einen Bischof von einem Kontinent normal war, den anderen befremdete und fast wie ein Skandal vorkam [...]; was in einer Gesellschaft als ein Verstoß gegen das Gesetz gilt, kann ein unantastbares Gebot in einer anderen sein; was für manche Teil der Gewissensfreiheit ist, gilt anderen nur als Verwirrung. In der Tat sind Kulturen sehr unterschiedlich und jedes generelle Prinzip bedarf der Inkulturation, um beachtet und angewendet werden zu können."
Noch bei der Abschlusspressekonferenz der Bischofssynode am 24. Oktober 2015 stand neben den mit deutlicher (oder knapperer) Zweidrittelmehrheit verabschiedeten Beratungsergebnissen genau dieser Zusammenhang im Mittelpunkt, als die "Diversität und Einheit in der Synodalität " als Kennzeichen der katholischen Kirche mit weltweit 1,3 Milliarde Gläubigen bezeichnet wurde. Deutlich wurde betont, dass sich die Kirche auf dem synodalen Weg an dem Gleichgewicht, an der Balance zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung messen müsse, wenn sie die Herausforderung der heutigen Zeit annehmen will. Neben dem Abschlussdokument der ‚Relatio Synodi‘ mit seinen vielen, z.T. sehr weiterführenden Einzelvoten ist diese formale Feststellung tatsächlich aus meiner Sicht das Hauptergebnis des zweijährigen synodalen Prozesses. Und es markiert noch nicht einmal ein Ergebnis im eigentlichen Sinn, sondern einen Zwischenstand, wie Papst Franziskus in einer als historisch bezeichneten Rede am Ende der zweiten Synodenwoche – im Rahmen eines Festaktes anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Bischofssynode – am 17. Oktober 2015 ausführte:
"Wir sind auf halbem Weg, auf einem Teil des Weges. Wie ich bereits gesagt habe, ist es in einer synodalen Kirche 'nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen 'Dezentralisierung' voranzuschreiten' (Evangelii gaudium 16)."

Das doppelte Paradox der Familiensynode

Synodalität ist der Weg der Kirche im dritten Jahrtausend“, so die deutliche Ansage von Papst Franziskus während der Versammlung der Bischofssynode im vergangenen Oktober, die hohe Wellen geschlagen hat. Sie ist in dreifacher Weise paradox. In Hinblick auf das noch ausstehende Synodenergebnis, kommt es nämlich zunächst – Paradox dieser Synode – auf das nachsynodale Schreiben von Papst Franziskus an, das für Ende des ersten Quartals dieses Jahres erwartet wird. Dass nach der derzeitigen Kirchenverfassung nicht nur Fragen der Lehrverkündigung und -entwicklung, sondern auch alle Veränderungen in Hinblick auf eine Änderung der Kirchenverfassung – das bedeutet eine ‚Dezentralisierung‘ –, nur ‚top down‘ erfolgen können, ist das zweite, damit verbundene Paradox. Nicht minder paradox ist aber, dass gerade die vermeintliche Ergebnislosigkeit der Synode mit ihren teilweise konträren und zuweilen entgegengesetzten Positionen im Abschlussdokument dafür eine Argumentationsbasis bietet. Schon in seinem ersten apostolischen Schreiben Evangelii gaudium des Jahres 2013 hatte Papst Franziskus das päpstliche Dienstamt als zu einer Umgestaltung herausgefordert beschrieben, in der Kollegialität und Synodalität Wesensvollzüge einer sich erneuernden Kirche sind. In dem Willen, in Richtung einer "heilsamen Dezentralisierung" voranzuschreiten, spricht Papst Franziskus in dem o.g. Lehrschreiben von einer "Bekehrung" des Papstamtes (vgl. EG 32). Er bezieht sich dabei auf Papst Johannes Paul II., der schon 1995 in seiner Ökumene-Enzyklika dieses Neuverständnis andeutet, dass es notwendig sei "eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet" (Ut unum sint 95).

Wenn Papst Franziskus im direkten Anschluss bereits seinen "Blick auch auf die ganze Menschheit" richtet, ist das die weitere Perspektive (die etwa auch schon in seinem Plädoyer in der Enzyklika 'Laudato si' für die Schöpfungsverantwortung und -sorge im 'gemeinsamen Haus' deutlich geworden ist), die sich zunächst an den Herausforderungen innerhalb der katholischen Kirche zu bewähren hat: in dem Abwägen gemeinsamer pastoraler Leitlinien angesichts der in den Teilkirchen und Kulturen dieser Welt sehr unterschiedlichen Herausforderungen im Bereich von Ehe und Familie. Das Abschlussdokument der diesjährigen Synode vor Augen, das die Synodalen dem Papst als Beratungsergebnis übergeben haben, wird es das Amt des Papstes sein, seinem auf dem II. Vatikanischen Konzil konkretisierten und von ihm selbst noch einmal in derselben Jubiläumsansprache zitierten Selbstverständnis zu genügen, nämlich "das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen" (Lumen gentium 23, vgl. 1. Vatikanisches Konzil, Pastor Aeternus) zu repräsentieren.
 
Erwartungen an das nachsynodale Schreiben

Die erwartete Antwort von Papst Franziskus wird deshalb aus zwei Teilen bestehen: Einerseits wird er sich zu dem Beratungsergebnis des vorausgegangenen, zweijährigen synodalen Prozesses in einem nachsynodalen Schreiben verhalten und inhaltlich die ausgezogene Argumentation bündeln und orientieren. Dabei wird er sowohl pastorale Leitlinien ausziehen, die hinsichtlich des Synodenthemas "Berufung und Mission der Familie in der Kirche in der modernen Welt" die Einheit in der Weltkirche beschreiben, als auch die notwendige 'Symphonie der Verschiedenheit', die die Inkulturation der Thematik weltweit erfordert, unterstreichen. Es ist dabei zu erwarten, dass das Lehrschreiben den theologischen Grundgedanken der ‚barmherzigen Liebe Gottes’ aufnimmt und weiterführt und auch viele umstrittene Einzelthemen in neuer Weise anspricht. In einem "Fluss der barmherzigen Liebe", der aus der Erfahrung gespeist ist, selbst zuerst von Gott geliebt zu sein, erscheinen bereits im Abschlussdokument der Synode die zu Beginn angesprochenen 'heißen Eisen' in einem anderen Licht. Auch wenn Aussagen zu gelebter Homosexualität fehlen, finden sich statt verurteilender Einschätzungen in Hinblick auf vor- und nichteheliche Familienformen nunmehr einfühlsame und wertschätzende Worte bis dahin, dass selbst die Möglichkeit der Wiederherstellung der vollen Sakramentsgemeinschaft für wiederverheiratet Geschiedene im Wortlaut angesprochen wird.


Diese Gedanken werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in dem nachsynodalen Schreiben aufgenommen sein. Nicht zuletzt wegen der in diesen Themenstellungen sich dokumentierenden Pluralität wird Papst Franziskus daneben – angesprochen in demselben Schreiben oder einem darauf bezogenen Schreiben zur Kirchenverfassung – die Voraussetzungen für die Übernahme von Lehrverantwortung auf der Ebene der Teil- und Ortskirche schaffen müssen, indem er die synodale Verfasstheit der katholischen Kirche als gestufte Teilhabe an der Ausübung des kirchlichen Lehramtes erklärt, in Kraft setzt und mit ebendiesem Auftrag versieht. Der vermeintlich revolutionäre Neuansatz knüpft dabei an Gedanken an, die weit über das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils für heute hinausgehen. Dass Synodalität der Kirche – gerade bezogen auf die Vergangenheit – nicht fremd sei, sagte der emeritierte Dogmatiker Peter Hünermann im Gespräch mit Radio Vatikan (s. Pressemeldung vom 17.12.2015) anlässlich eines Kongresses zum 50jährigen Jubiläum des Endes des II. Vatikanischen Konzils in Rom im November 2015:
Weiterlesen:

Synodalität als Weg der Kirche
Es habe zum Leben der Kirche dazu gehört, ‚dass man in den Kirchenprovinzen jedes Jahr oder dann alle drei Jahre eine Diözesansynode hatte, wo im Grunde genommen die Pfarrer und die entsprechenden Autoritäten zusammenkamen und man die großen Fragen, die örtlich anlagen, behandelt und geregelt hat‘, erklärt der Dogmatiker. Im Mittelalter habe es auch gar keine anderen Möglichkeiten gegeben, Dinge zu regeln, ‚man musste sich einfach treffen‘, so Hünermann. ‚Im Grunde gab es damals immer Gremienentscheidungen.‘ Erst in den vergangenen Jahrhunderten habe sich das verändert. ‚Im Laufe der späteren Zeit wurden diese regelmäßigen Synoden dann abgelöst, wir haben im Kirchenrecht von 1917 noch die Verpflichtung, alle zehn Jahre in einer Diözese eine Synode abzuhalten, das wurde aber schon im 19. Jahrhundert kaum mehr praktiziert. Das muss auf neue Füße gestellt werden.‘ Damit ergeben sich für das, was der Papst die Synodalität für das dritte Jahrtausend nennt, schon Erfahrungen und Formen in der Kirche, auf die man zurückgreifen könne.“

Genau das geschehe nach Hünermann etwa im Vatikan, der in der Einberufung des K9-Rates zur Kurienreform bereits eine Vorform für ein regelmäßiges Konsistorium sieht. Nicht von ungefähr tagte dieser Rat am 8. und am 9. Februar 2016 über die Möglichkeiten von "Synodalität" und einer "heilsamen Dezentralisierung" und ihre Verwirklichungsformen. Auf Ebene der Ortskirchen finden sich bereits schon jetzt mehr oder weniger ausgebaute, synodale Strukturen:
„'Wir haben auch eine gewisse Vorform von Synodalität in den Gemeinderäten, im Pastoralrat für die Diözesen. Was fehlt, ist gewissermaßen ein entsprechendes Gremium auf der Ebene der Bischofskonferenzen. Wir haben in Deutschland das Zentralkomitee der Katholiken, das wäre ein Gremium, das irgendwie mit dort hinein gehörte, durch sein Präsidium oder so etwa. Da muss man jetzt Formen auspacken, mit denen sich das wirklich praktisch realisieren lässt.' Regional und gestuft müsse das geschehen, den einzelnen Ebenen angemessen.“ (s. Radio Vatikan vom 17.12.2015)
Ecclesia semper reformanda

Ecclesia semper reformanda“: Diese ursprünglich der reformatorischen Tradition entlehnte Formulierung für eine kontinuierliche Kirchenerneuerung wird oft mit dem II. Vatikanischen Konzil verbunden, wo sich dieses Verständnis unter der verwandten Formulierung „ecclesia purificanda“ bereits ausdrücklich in der Konstitution Lumen gentium 8 findet. Papst Franziskus zitierte die erstgenannte Wendung „Ecclesia semper reformanda“ hingegen wiederholt im Wortlaut: etwa im Rahmen einer Predigt am 9.11.2013 und insbesondere in seiner programmatischen Weihnachtsansprache des Jahres 2015, in der er betonte, dass „[d]ie Reform […] mit Entschlossenheit, klarem Verstand und Tatkraft fortgeführt [werde], denn Ecclesia semper reformanda.“

Wir werden es erleben: Das angesprochene, mehrfache Paradox der Familiensynode – die medial sowohl nach der Synode 2014 als auch 2015 beklagte Umstrittenheit der Synodenergebnisse – wird rückblickend als Motor für die Erneuerung der Kirche gedeutet werden können: sowohl hinsichtlich der Lehrentwicklung als auch in Hinblick auf die Kirchenverfassung. „Synodalität ist der Weg der Kirche im dritten Jahrtausend“, denn: „Zeitgemäße Erneuerung […] heißt ständige Rückkehr zu den Quellen […] und zum Geist des Ursprungs.“ (II. Vaticanum: Perfectae caritatis 2) Oder wie es der Konzilstheologe M.-Dominique Chenu in dem Interviewband ‚Von der Freiheit eines Theologen‘, Mainz 2005, ausdrückt: „Je näher ich meiner Zeit bin, desto mehr sehe ich mich auf die Ursprünge verwiesen; und je klarer ich meine Ursprünge wahrnehme, desto näher bin ich meiner Zeit.“ Mit Chenu sieht auch Papst Franziskus in den Zeichen der Zeit eine Wirkweise des Evangeliums heute: „Es gehe nicht darum, sich in allem anzupassen und in die ‚Bequemlichkeit eines Konformismus‘ zu verfallen“, so der Papst in seiner Predigt im Gästehaus Santa Marta am 23.10.2015. „Nötig sei vielmehr eine sorgfältige Unterscheidung der neuen Entwicklungen, […] die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu deuten.“



in Teilen veröffentlicht in:
 Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (Hrsg.), Salzkörner. Materialien für die Diskussion in Kirche und Gesellschaft, 21. Jg. Nr. 6, S. 8-9)
und:
Ehe und Familie, wohin? Ein Blog vor der Familiensynode und ein Kommentar danach, aus der Perspektive der Erwachsenenseelsorge, in: Bibel und Liturgie 89, 2016, 2, 137-143.



Lesen Sie hier auch den Blog-Beitrag vom 1.3.2016 'In Erwartung des nachsynodalen Schreibens' von Papst Franziskus.