Dienstag, 1. März 2016

In Erwartung des nachsynodalen Schreibens von Papst Franziskus: Für eine Sexualpädagogik, die an der Zeit ist, und für eine Theologie der Leiblichkeit

Leibfeindliches Christentum? Auf der Suche nach  einer
neuen Sexualmoral,  HerKorr Spezial 2-2014 (Titelseite)

Dass sich die Kirche gar nicht mehr mit den Fragen von Sexualpädagogik und -moral beschäftigen brauche, weil sich vermeintlich eh niemand mehr in der Gesellschaft an ihren Maßstäben orientiere, heißt es öffentlichkeitswirksam in einem vorab verbreiteten Interview des März-Heftes der Herder Korrespondenz. Ob Manfred Lütz die Pädagogik in einem Bereich der grundlegenden personalen Bildung (nicht zuletzt der Primar- und Sekundarstufen) tatsächlich dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überlassen, allein durch Rezeptblock oder das Strafgesetzbuch (s.u.) geregelt oder aber zur Überwindung einer "katholischen Identitätskrise" – wider den reißerischen Ersteindruck im wahrsten Sinn 'stillschweigend' – die überkommenen Lehren bereits aufgegeben hat oder ungeschichtlich überhöhen will, mag hier offen bleiben.
 
Für eine Sexualpädagogik, die an der Zeit ist!

Dass die dringende Aufnahme der Themen rund um die kirchliche Sexualmoral und -pädagogik bei den Umfragen im Zuge der Vorbereitung der beiden Familiensynoden der Jahre 2014 und 2015 in den deutschen Diözesen in einer an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Weise eingefordert wurde, mag die schillernde Einzelstimme – auch im differenzierenden Kontext anderer Beiträge in einem ebenfalls neu herausgegebenen Herder Korrespondenz-Dossierrelativieren, zumal die Thematik der Familiensynoden um die "Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung" und die "Berufung und Sendung in der modernen Welt" genau auf jenes Zentrum des Glaubens zielt, das ja auch der Chefarzt des Kölner Alexianer-Krankenhauses in den Mittelpunkt gerückt sehen will. Der synodale Prozess hat in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, wie wichtig es ist, sprachfähig zu sein bzw. zu werden in den Fragen von Sexualität – gerade bei der Hinführung und Begleitung junger Menschen und der Erziehung in der Familie. Die deutsche Sprachgruppe – eine von den 13 Circoli minori der XIV. ordentlichen Bischofssynode im Jahr 2015 – brachte es in einer später auch im Abschlussdokument (Nr. 56) der Synode beinahe wörtlich übernommenen Formulierung auf den Punkt:

Ausführlich haben wir uns auch über den Zusammenhang von Sprache, Denken und Handeln gerade im Hinblick auf eine humane Gestaltung der menschlichen Sexualität ausgetauscht. Vielen Eltern und in der Seelsorge Tätigen fällt es schwer, eine sachgerechte und zugleich respektvolle Sprache zu finden, die die Aspekte der biologischen Geschlechtlichkeit in den Gesamtzusammenhang von Freundschaft, Liebe, bereichernder Komplementarität und gegenseitiger Hingabe von Frau und Mann stellt.“ (Relatio - Circulus Germanicus)
Das Aufgreifen der Fragen rund um den Themenkomplex der "Sexualität, die im Herzen der Synode steht", ist umso wichtiger, als die Leibfeindlichkeit im Christentum eine lange Geschichte hat – das bestätigt gerade eine jüngst erschienene Veröffentlichung des Münsteraner Kirchengeschichtlers Arnold Angenendt – und reicht bis auf Augustinus (354-430) zurück. Augustinus selbst habe zwar sexuell recht entspannt gelebt, doch über seine Schriften die Lust mit der Erbsünde in Verbindung gebracht. In der Folge wurden – in Fortsetzung des neuplatonischen Denkansatzes und eines durch die Jahrhunderte immer wieder aufflammenden, unchristlichen Rigorismus – alle Verstöße gegen das Sechste Gebot als Todsünde gewertet. Heute scheint demgegenüber eine Sexualfeindlichkeit augenscheinlich ferne gerückt: nicht nur – wie auch die Umfragen in Vorbereitung der Doppelsynode zu Ehe und Familie der Jahre 2014 und 2015 unterstreichen – im Leben der allermeisten Christen, sondern selbst in den kirchenamtlichen Stellungnahmen zuvor. Nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. wurde aus seinen zwischen September 1979 und November 1984 gehaltenen Mittwochskatechesen eine ‚Theologie des Leibes‘ abgeleitet, die den Leib in einer konstitutiven Bedeutung für das personale Dasein des Menschen beschreibt.
"Die Theologie des Leibes ist nicht nur eine Theorie, sondern enthält eine ganz bestimmte, dem Evangelium gemäße christliche Pädagogik des Leibes." Papst Johannes Paul II.
Für eine Theologie der Leiblichkeit

So kann man nur unterstreichen, dass auch die ‚Theologie des Leibes‘ schon einen Versuch darstellt, die Lehre der Kirche mit dem Leben der Menschen in neuer Weise zu verbinden – die ‚katholische Identitätskrise‘ und den Anschein der Leibfeindlichkeit zu überwinden. Aber wie schon der Konzilstheologe M.-Dominique Chenu (Von der Freiheit eines Theologen) immer „misstrauisch“ gewesen ist, „wenn die Kirche ein Vokabular übernimmt, gegen das sie früher gekämpft hat. Es sieht dann immer so aus, als wollte sie es entschärfen“, müssen auch die Entwürfe einer Theologie der Leiblichkeit sich in einem Diskurs bewähren und mit ihren Größen und Grenzen gleichermaßen in den Blick genommen werden. Ohne dass die konkreten Wege und Methoden einer kulturspezifisch ja je eigen zu entwickelnden Sexualpädagogik als solche nominell in den bisherigen Abschlussdokumenten der Familiensynoden eine Rolle spielen würden bzw. könnten, und die Fragen rund um die zukünftigen Wege der Sexualpädagogik mit dem nachsynodalen Wort erst neu auf den Weg gebracht werden, kann man als ein Desiderat der im mitteleuropäischen Raum bereits in akademischen Studiengängen firmierenden ‚Theologie des Leibes‘ sicher die noch ausstehende Kontextualisierung mit der philosophischen Anthropologie oder der ‚Phänomenologie des Leibes festhalten. Sie böten sich in einem wissenschaftlichen Kontext auf philosophischer Seite als Gesprächspartner ebenso an wie die verschiedenen Ansätze einer Leib-Psychologie – etwa über den im englischen Sprachraum und darüber hinaus seit Jahrzehnten eingeführten Begriff des ‚embodiment‘ – wie die Rezeption der zahlreichen sexualpädagogischen und moraltheologischen Grundlagenwerke gerade im deutschen Sprachraum. Ein solcher Diskurs würde dann vor allem auch eine Beschäftigung mit dem Leibbegriff als solchem ermöglichen, der zugleich weit über die Fragen von Geschlechtlichkeit und Sexualität hinausgeht und die Frage nach Leiblichkeit und Räumlichkeit religiös noch weiter- und tiefer führen könnte; wenn etwa der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs ganz selbstverständlich in einem 'Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie' von ‚Inkarnation‘ spricht und hier eine genuin christliche Semantik in neuer Weise in Hinblick auf die menschliche Leibeinwohnung verwendet. Wo die Traditionslinie der philosophischen Anthropologie der letzten Jahrzehnte wie in einem Cantus firmus ein Neuverständnis des Leibbegriffes unterstreicht, nach dem der Mensch nicht nur einen Körper hat, sondern Leib ist, heißt es in Veröffentlichungen zur 'Theologie des Leibes' vornehmlich immer noch umgekehrt: dass der Mensch nicht nur Körper sei, sondern vielmehr den Körper als Mittel der Expression habe – mit der Konsequenz, dass eine rein naturrechtliche Deutung des ‚rechten Leibgebrauches‘ im personalistischen Gewand einen fröhlichen Urständ feiern kann.
 
Wohl verstanden: Den Leib als Ausdruck des vernunftgeleiteten Personzentrums zu verstehen, beschreibt eine Weise des menschlichen Leib-Seele-Verständnisses. Man sollte sich aber der damit eingenommenen Position bewusst sein und wissen, das um das rechte Leib-Seele-Verständnis seit der Aristoteles-Rezeption des Mittelalters "in der Theologie die Problemstellungen kreisen und an dem die Denkweisen sich scheiden." (M.-D. Chenu, Leiblichkeit und Zeitlichkeit). Von daher bleibt das Naturrecht ein theologiegeschichtlich bedeutsamer Ansatz in der Moraltheologie, der in sich viele unterschiedliche Zweige ausgebildet hat, von denen einige mit Ansätzen der Beziehungs- und Verantwortungsethik verbunden sind. Aber dass ein ausschließlich naturrechtlich argumentierender Denkansatz nicht die einzige Grundlage einer Theologie der Leiblichkeit bleiben und schon gar nicht dogmatistisch eine Deutungshoheit über die zukünftige christliche Moral- und Sexualpädagogik beanspruchen darf, ist gerade vor der Veröffentlichung des im März erwarteten nachsynodalen Schreibens von Papst Franziskus zu unterstreichen.

In Erwartung des nachsynodalen Schreibens
 
Mit den neu im Zuge des synodalen Prozesses der vergangenen Jahre aufgenommenen Fragen und ‚heißen Eisen‘, den Beratungsergebnissen der beiden Synoden und der Veröffentlichung des nachsynodalen Schreibens selbst, muss die nun folgende – und notwendig kulturell je spezifische – Suche in den Orts- und Teilkirchen nach geeigneten pädagogischen Ansätzen in einer Vervollkommnungsperspektive von Liebe, Freundschaft, Partnerschaft und Ehe in und für die heutige Zeit neu auf den Weg gebracht werden. Ja, wir brauchen neue Ansätze und pädagogische Konzepte zu den Fragen von Leib, Körper und Sexualität, zu Fragen von Geschlechtersensibilität und -gerechtigkeit auf der Höhe der Zeit, rückgebunden an die in neuer Weise hervorgehobene Schöpfungstheologie und auf Augenhöhe mit dem pädagogischen und philosophischen Diskurs in unserer Ortskirche und Gesellschaft „in dieser Zeit raschen Wandels und zunehmender Komplexität der Probleme. Die Kirche hat lange genug, viel zu lange geschwiegen in dem Bereich der nunmehr gottseidank im Herzen der Familiensynode steht. Und gerade und allein das mutige Anpacken, Ansprechen und das Aggiornamento in der Lehrentwicklung und Verkündigung wird die Katholische Kirche aus einer "katholischen Identitätskrise" und dem Eindruck, "öffentlich als sexualfixiert" zu gelten, herausführen.


Die Weltkirche erwartet das für Mitte März angekündigte, nachsynodale Schreiben von Papst Franziskus, die katholische Kirche in Deutschland in den Diözesen, Gremien, Verbänden – und im engen Verbund mit den Theologischen Ausbildungsstätten und Fakultäten – die im Zuge der angekündigten 'heilsamen Dezentralisierung' neuen Verantwortlichkeiten in der Lehrverkündigung und -entwicklung. Dann bleiben der Kirche hoffentlich in Zukunft Aussagen wie die des australischen Kurienkardinals George Pell erspart, der noch am vergangenen Sonntag in einer Prozessanhörung einer Missbrauchsuntersuchung das Nacktschwimmen und Küssen von schutzbefohlenen, minderjährigen Jungen für "nicht sexuell" hielt. Ganz offensichtlich ist diesem in Lütz'scher Terminologie führenden Konservativen, der bei der vergangenen Familiensynode noch lautstark für 'unverhandelbare Prinzipien' eingetreten war, die katholische Sexualmoral auch zu lax erschienen. Dass nach den vielen Missbrauchsskandalen  erst die staatliche Rechtsprechung kirchliche Amtsträger beim Verletzen von Menschen- und Personrechten nachgehen und in gewisser Weise auch vorführen muss, zeigt, wie nötig „[d]ie Reform […] mit Entschlossenheit, klarem Verstand und Tatkraft fortgeführt" werden muss. (Papst Franziskus in der Weihnachtsansprache des Jahres 2015)


Lesen in diesem Blog auch den Beitrag zur Veröffentlichung des nachsynodalen Schreibens mit dem Titel 'Amoris laetitia' vom 8.4.2016)